Sterberaten – Covid-19 explained IV

Sterben 2% der Menschen an einer Covid-19-Infektion? Oder sind es doch 3,9% oder nur 0,9%? In diesem Artikel lernst du, was es mit diesen Zahlen auf sich hat und wie man sie einzuordnen hat, wenn man davon in den Medien hört.

Der Artikel Sterberaten – Covid-19 explained III ist ein Artikel aus der Artikel-Serie Covid-19 explained, der verschiedene wichtige Informationen zur Corona-Pandemie aus verschiedenen Quellen aggregiert und aufbereitet.

Begriffsdefinitionen: Sterberate, Letalität, Mortalität

In der Welt der Sterberaten gibt es Unterschiede in der Definition und in der Mathematik hinter der Berechnung. Wenn ich in diesem Artikel von der Sterberate im Bezug auf den Coronavirus rede, meine ich die Letalität. Diese beschreibt die Anzahl der an der Infektion verstorbenen Menschen in Bezug auf die Gesamtzahl der Covid-19-Infizierten. Rechnerisch würde das Ganze also wie folgt aussehen:

Anzahl der Verstorbenen an Covid-19 / Anzahl der Covid-19-Infizierten = x% Sterberate Covid-19

Letalität ist dabei nicht synonym mit Mortalität. Die sogenannte Mortalität bzw. Mortalitätsrate setzt nämlich die Anzahl der Verstorbenen mit der Zahl der Gesamtbevölkerung (in einem definierten) Gebiet in Kontext.

Zahlen-Wirrwar: 2%, 3,9% oder 0,9%?

Im Moment ist es nicht einfach zu verstehen, was es mit den verschiedenen Sterblichkeitsraten in Bezug auf Covid-19 auf sich hat, die in den Medien kommuniziert werden. Nur ein paar Beispiele:

  • Bevor der Coronavirus zur Pandemie erklärt wurde, haben Virologen die Letalität bei ca. 2% eingeordnet.
  • Die Letalität, die aktuell (Mitten in der Krise) für viele europäische Länder kommuniziert wird, liegt zwischen 3,6% und 3,9%.
  • In Italien liegt die Corona-Sterberate für Corona zurzeit (je nach Tag) bei bis zu 8,3% (19.03.2020).
  • Für asiatische Länder, die an China angrenzen wird die Corona-Sterberate auf teilweise „nur“ 0,9% beziffert.

Experten-Prognose

2%

Experten-Prognose der Corona-Sterberate vor der Pandemie.

Europa / Deutschland

3,6% – 3,9%

Tagesaktuelle Sterberaten aus Deutschland, Spanien, Frankreich in der KW11 2020

Italien

8,3%

Sterberate in Italien Stand 19.03.2020

Rest von China

0,9%

Sterberate im Rest von China nach dem Ausbruch in Wuhan.

Die entscheidenden Fragen hinter diesen Zahlen sind entsprechend: Welche dieser Zahlen ist richtig? Und: Welcher dieser Zahlen kann ich glauben?
Spoiler Alert: Alle diese Zahlen sind richtig – auf ihre eigene Art und Weise!

Das Problem mit klinischen Zahlen und ihrer Erhebung

Beginnen wir mit den 2%, die vor dem Ausbruch des Coronavirus aus Experten-Kreisen kursierten. Diese Zahl ist womöglich richtig, aber vorrangig in einem klinischen bzw. theoretischen Konstrukt einer Simulation. In dieser Natur ist sie schwer mit den Zahlen innerhalb der Krise vergleichbar. Führen wir uns dazu vor Augen wie Virologen (wahrscheinlich) auf diese Zahl gekommen sind auf einem Zeitstrahl:

März

Infizierte neu: 10.000

Verstorbene neu: 400

Infizierte Gesamt: 10.000

Verstorbene Gesamt: 400

April

Infizierte neu: 80.000

Verstorbene neu: 800

Infizierte Gesamt: 90.000

Verstorbene Gesamt: 1.200

Mai

Infizierte neu: 10.000

Verstorbene neu: 400

Infizierte Gesamt: 100.000

Verstorbene Gesamt: 1.800

Juni

Infizierte neu: 0

Verstorbene neu: 200

Infizierte Gesamt: 100.000

Verstorbene Gesamt: 2.000

Juli

Es gibt keine neuen Infektionen und keine neuen Tode mehr, die mit der Infektion in Verbindung stehen. D.h. es sind alle Daten zur Pandemie vorhanden und es wird gemessen:

Infizierte Gesamt: 100.000

Verstorbene Gesamt: 2.000

Letalität Gesamt: 2%

Die Rechnung der Experten ist eine Simulation! Und die Berechnung hat alle Daten zur Pandemie am Ende zur Verfügung. Dies ist ein großer Unterschied zu den aktuellen Berechnungen! Denn: Die aktuell kommunizierten Zahlen haben insbesondere im ersten Monat bei langem nicht alle korrekten Zahlen zur Infektion zur Verfügung und können auch nicht ganz sicher antizipieren wie viele im jeweiligen Monat Infizierte noch an den Folgen der Infektion sterben werden.

Hätten wir z.B. in diesem Szenario nach dem ersten Monat die Sterberate kommuniziert, hätten wir eine 4% Sterberate kommunizieren müssen – eine Rate doppelt so hoch wie am Ende tatsächlich erhoben. Erst in Monat 2 und 3 wird die Anzahl der Infizierten „richtiger“ und drückt die Rate zwischenzeitlich unter 2%. Zum Ende hin wird die Pandemie eingedämmt und die Anzahl der verstorbenen „läuft noch nach“ und bringt die Rate auf die finalen 2%. Dabei ist zu beachten, dass bei dieser Vorhersage auch bestimmte Annahmen getroffen werden müssen, die in der Realtität so nicht eintreffen. Dazu zählen:

  • Die Qualität des Gesundheitssystems und der Versorgung (ist dies schlecht könnte die finale Rate höher liegen)
  • Die Auslastung des Gesundheitssystems (ist dieses überlastet sterben auch Menschen, die nicht hätten sterben müssen)
  • Der Anteil der Risikopatienten in der Gesamtmenge der Infizierten (ist eine Bevölkerung im Schnitt älter, wird die Letalität womöglich höher ausfallen)
  • Es werden wirksame Maßnahmen zur Eindämmung getroffen

Deutschland & Europa: Wir rechnen sehr früh und haben nicht das gesamte Bild

Wenn wir das obere Szenario zugrunde legen, befinden wir uns aktuell in Monat 1 (März) der Pandemie. Es muss in Europa zurzeit quasi die 4% kommuniziert werden! Das liegt daran, dass wir noch kein erschöpfendes Bild bezüglich der tatsächlich Infizierten haben. Tests haben gerade erst begonnen und Maßnahmen zur Eindämmung greifen (noch) nicht. Ein weiteres Problem ist das Ungleichgewicht bei der Messung der beiden Gesamtheiten, die die Sterberaten am Ende ausmachen: Anzahl Verstorbener und Anzahl Infizierter. Stellt euch dazu vor:

Die Anzahl der Verstorbenen kann tagesaktuell sehr genau bestimmt werden. Sobald ein Patient schwere Symptome zeigt, wird er / sie ins Krankenhaus eingeliefert und ist ab diesem Zeitpunkt „im System“ bzw. extrem genau in der Zählung. Ab diesem Zeitpunkt können Ärzte stundengenau über den Status des Patienten berichten und eine Meldung über den Tod eines Patienten ist spätestens am Folgetag um 8h in den Zahlen erfasst.

Die Anzahl der Infizierten ist permanent ungenau. Während schwer erkrankte Patienten direkt im System erfasst werden, kann es sein, dass ein Infizierter niemals im System erfasst wird und damit die Sterberate niemals „herunterziehen“ kann. Das ist beim Coronavirus sehr gut möglich, weil viele Infizierte niemals Symptome zeigen. Ein weiterer Teil der infizierten Menschen ist noch lange nicht in der Zahl enthalten, da sie noch keine Symptome zeigen. Infiziert sich jemand am 19.03. sollte er / sie am 20.03. bereits in den Zahlen enthalten sein, ist dies aber nicht weil die ersten Symptome erst am 22.03. auftreten und dadurch ein Test möglich wird. Ein weiterer Teil in der „Dunkelziffer“ sind Menschen, die zwar getestet sind, aber noch nicht ausgewertet. D.h. wenn morgen um 8h die Sterberate publiziert wird, sind ihre Tests noch im Labor oder in der Klinik, wo der Abstrich gemacht wurde.
Diese drei Personen-Gruppen (Ohne Symptome, noch nicht getestet und getestet ohne Ergebnis) müssten theoretisch zu jedem Zeitpunkt in der Sterberate eingerechnet werden, um ein repräsentatives Bild der Sterberate zu erhalten. So wie es im Monat 1 aussieht würde die Korrektur dieser Unzulänglichkeit die Sterberate deutlich mehr Richtung 2% drücken als die 4% übersteigen.

Gedanken-Experiment: Wenn bisher 200 gestorben sind, wie viele müssten dann bereits infiziert sein?

Ein etwas erschreckendes Gedanken-Experiment ist folgende Idee: Angenommen die 2% Sterberate der Virologen ist korrekt, wie viele Infizierte hätte es dann in Monat 1 geben müssen, wenn wie von 400 Verstorbenen wissen?

Wir könnten die Formel der Letalität nämlich auch umstellen, wenn wir eine Zahl für x voraussetzen. Hätten wir im Monat 1 (März) 400 Todesopfer des Corona-Virus, dann „bräuchten“ wir eine Anzahl von 20.000 Infizierten, um die Gleichung zu balancieren. D.h. mit 400 Todesopfern müssten 20.000 Infizierte vorliegen. D.h. die Dunkelziffer liegt bei 10.000 infizierten aber nicht erfassten Patienten! Die entsprechende Gleichung würde wie folgt umgestellt:

400 Verstorbene / y Anzahl Infizierter = 2% Sterberate

400 Verstorbene / 2% Sterberate = y Anzahl Infizierter

20.000 = y Anzahl Infizierter

Das sage ich euch nicht, um euch Angst zu machen, sondern aufzuzeigen, dass das Problem der Infizierten in dieser frühen Phase immer deutlich größer ist als wir es messen und kommunizieren können. Mehr dazu im Artikel Anzahl Infiziert – Covid-19 explained II.

Der Fall Italien: Sterberate am Limit

Der Fall von Italien, das als europäisches Epizentrum der Corona-Krise gilt, ist ein krasses Beispiel wie die Realität eine Sterberate in die Höhe treiben kann. Lasst uns erst einmal vorweg nehmen, dass Italien mit dem gleichen Problem zu kämpfen hat wie die europäischen Staaten aus dem Beispiel in der vorherigen Sektion dieses Artikels. Entsprechend würden wir davon ausgehen, dass Italien ebenfalls Corona-Sterberaten von ca. 4% kommunizieren müsste. Allerdings hat Italien bis zum 19.03.2020 eine Sterberate von 8,3%! Das ist doppelt so hoch wie in anderen europäischen Staaten!

Anzahl Infizierter: 41.035

Anzahl Verstorbener: 3.405

Letalität: 8,3%

Aktuell lassen verschiedene Pressemeldungen vermuten, dass die italienische Sterberate auch nach Erfassung aller Daten höher liegen wird als in den Modellen und in umliegenden europäischen Staaten. Dies hat drei Hauptgründe:

  1. Das italienische Gesundheitssystem ist jetzt schon überlastet. D.h. es sterben auch Patienten, die biologisch nicht hätten sterben müssen, weil Ärzte keine Zeit für ihre Versorgung haben.
  2. Die italienische Bevölkerung ist im Schnitt älter als Bevölkerungen anderer vergleichbarer Länder. D.h. es werden mehr alte Menschen und Menschen mit Vorerkrankung infiziert, die wiederum eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, an der Infektion zu sterben.
  3. Maßnahmen zur Eindämmung kamen spät und funktionieren teilweise bedingt. Auch theoretische Modelle, die mit 2% arbeiten, rechnen ab einem gewissen Punkt mit der Wirkung von Maßnahmen zur Eindämmung. In Italien wurden Maßnahmen erst spät eingeleitet und Ausgangssperren zeigen an manchen Stellen nur bedingte Wirkung (ein Problem, das anderen europäischen Staaten noch bevorsteht).

Besonders erschreckend an diesem Beispiel ist das überlastete Gesundheitssystem. Sogar wenn wir eine 4%ige Sterberate ohne Überlastung des Systems voraussetzen würden, sind bis jetzt in Italien bereits ca. 1.700 Menschen am Virus gestorben, die nicht hätten sterben müssen, hätten Flatten-The-Curve-Initiativen Wirkung gezeigt – d.h. hätten Bürger aktiv Infektionsketten unterbrochen indem sie zu Haus bleiben.

Extrem niedrig: Sterberaten im Rest von China

Obwohl der Ausgangspunkt der Pandemie Wuhan in China liegt, scheinen die Sterberaten in den restlichen Regionen von China angeblich deutlich unter 2% zu liegen. Im Artikel Coronavirus: Why You Must Act Now von Tomas Pueyo suggeriert er, dass die Sterberate im Rest von China womöglich nur bei 0,9% liegt – und das obwohl der Infektionsherd mitten im Land liegt.

Dieser Umstand wird vor allem darauf zurückgeführt, dass die entsprechenden umliegenden Provinzen schnell und konsequent auf die Gefahr aus der Provinz Hubei reagiert haben: Social Distancing und Abriegelung von Risikogebieten wurden dort direkt implementiert als das Ausmaß des Problems deutlich wurde. So wurde die Anzahl der Infizierten gering gehalten und alle Patienten konnten behandelt werden, weil eine Überlastung des Systems niemals eingetreten ist.

Das gleiche wird im Übrigen auch für Länder suggeriert, die einen regen Austausch mit China pflegen. In Thailand, Südkorea und Taiwan wurden ähnliche Entwicklungen und Maßnahmen beobachtet. Dazu sollen Erfahrungen mit SARS-Infektionen in der Vergangenheit bei der Eindämmung des Virus geholfen haben.

Zusammenfassung: Das solltet ihr euch merken

Wenn ihr euch etwas nach Lesen dieses Artikels merken möchtet, könnten es 2 bis 3 Punkte aus der folgenden Auflistung sein:

  • In der frühen Phase der Pandemie werden kommunizierte Sterberaten fast immer höher liegen als die Expertenmeinung zu Beginn suggeriert hat.
  • Die kommunizierten Sterberaten des Robert Koch Instituts oder anderen wissenschaftlichen Stellen sind nicht falsch, aber zeigen niemals die ganze Realität, weli diese Stellen nicht an alle notwendigen Daten während der Krise kommen (Beispiel: Dunkelziffer in Europa).
  • Wenn wir die Überlastung des Gesundheitssystems nicht verhindern, wird die Sterberate nachhaltig höher liegen als zuvor antizpiert und Menschen werden unnötig sterben (Beispiel: Italien).
  • Die relative Entwicklung einer Sterberate ist an vielen Stellen ein besserer Indikator zu Beurteilung der Lage als der Vergleich von absoluten Zahlen.
  • Wer (als Staat oder Bürger) eine niedrige Sterberate kleiner als 2% oder gar 1% haben möchte, muss schnell einschneidende Maßnahmen durchführen (z.B. Ausgangssperren verhängen oder Social Distancing betreiben).

Entdecke Artikel der Covid-19 explained Serie:

Covid-19 explained I – Flatten the Curve

Covid-19 explained II – Anzahl Infizierter

Covid-19 explained III – Fragen and Corona-Leugner

Covid-19 explained IV – Sterberaten

Christoph Kleine
Christoph Kleine

... Managing Director bei THE BIG C Agency & Gründer von internetzkidz.de. Neben Online-Marketing beschäftigt er sich mit Usability, Web-Analytics, Marketing-Controlling und Businessplanung. Xing, LinkedIn.

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