Ausgangssperren – Covid-19 explained VI

Kaum ein Begriff ist in den vergangenen Tagen so häufig in Nachrichten und Gesellschaft verwendet worden wie: Ausgangssperre. Hinter diesem Begriff verbergen sich aber im Kontext von Corona zwei Ungenauigkeiten bzw. Probleme, die es zu beachten gilt.

Diese beiden Probleme sind die inflationäre Verwendung für mildere Einschränkungen des öffentlichen Lebens und die Assoziation als Mittel dominante Maßnahme der Staatsgewalt.

Ausgangssperren und Ausgangssperren – know the difference

Wenn wir in Deutschland nicht mehr in Kneipen und Geschäfte dürfen und nur noch essentielle Erledigungen machen müssen, wird häufig bereits von einer Ausgangssperre gesprochen. Und auch in Bayern macht Markus Söder seine Bevölkerung glauben, seine Landesregierung habe eine Ausgangssperre verhängt. Das alles stimmt leider – nach aktuellen Eindrücken zu urteilen – nicht wirklich. Denn obwohl diverse Maßnahmen in Deutschland getroffen wurden, die uns dazu anhalten, das Haus nicht mehr zu verlassen, sind wir nicht vollständig im Ausgang eingeschränkt.
Experten sprechen hier häufig auch von einer Ausgangssperre light!

Dies können wir gut nachvollziehen, wenn wir mal den Fall „Bayern“ mit dem Beispiel aus der chinesischen Stadt Wuhan in der Region Hubei vergleichen. Die Maßnahmen in der chinesischen Stadt kommen dabei einer Ausgangssperre zur Eindämmung des Coronavirus noch am nächsten.

Bayern: Ausgangssperre light

Wenn wir Revue passieren lassen, erinnern wir uns, dass in Bayern Einschränkungen mit folgenden Ausnahmen erlassen wurden:

  • Wege zur Arbeit sind weiterhin erlaubt
  • Arztbesuche sind erlaubt (ungeachtet der Spezialisierung des Arztes)
  • Besuche des Lebenspartners sind zulässig
  • Wer einkauft in Supermärkten und Apotheken oder für andere Menschen einkauft darf sich frei bewegen
  • Sport darf weiterhin alleine im Freien gemacht werden

Wuhan: Ausgangssperre mal so richtig

Wenn wir uns an die Bilder aus der chinesischen Stadt Wuhan von Ende Februar bzw. Anfang März erinnern, wirkt die bayrische Ausgangseinschränkung nahezu wie ein Kindergeburtstag. Damals wurden vollständig leere Straßen gezeigt, Menschen kommunizierten teilweise nur noch über Online-Videospiele, obwohl Luftlinie teils weniger als 100m voneinander entfernt wohnten.

Bilder Wuhan MOMA
Bilder des Corona-Lockdown aus einem MOMA-Beitrag der ARD.

In der Retrospektive umfassten die Ausgangsbeschränkungen:

  • Nur noch systemkritische Berufe dürfen das Haus zu Arbeitszwecken verlassen
  • Einkäufe wurden teilweise zentral gesteuert
  • Am Ortseingang und Ortsausgang wurde Wachpersonal positioniert, das sicherstellte, dass niemand die Stadt verlässt oder diese nicht autorisiert betritt

In diesem Beispiel haben wir eine „echte“ Ausgangssperre vorliegen, die in ihrer Konsequenz auch zu einer Degression der Infektionszahlen geführt hat.

Ausgangssperre: Wer ist hier zu dumm?

In vielen Fällen wird im Zuge der Coronakrise die Verhängung einer konsequenten Ausgangssperre mit Eingeständnis gleichgesetzt, dass die Gesellschaft bzw. Bevölkerung, über die sie verhängt ist, zu dumm ist gute/richtige Entscheidungen zu treffen.
Ich würde diese Schussfolgerung für 1 Minute gerne so stehen lassen und für korrekt identifizieren!

… (1 Minute)

Wenn wir mit dieser befriedigenden kausalen Kette aber ein wenig aufräumen, können wir eine Argumentation aufmachen, die auch den Entscheidern hinter diesen Maßnahmen ein gewisses Maß an Dummheit in Sachen Regierung und Kommunikation unterstellt. Die Gleichung Ausgangssperren = dumme Bürger ignoriert nämlich einige Missstände in dem System, das Entscheidungen und Verhaltensänderungen innerhalb unserer Bevölkerung herbeiführen sollen. Namentlich sind dies die Prinzipien, die in der Regierungs-Bubble zurzeit für die Bevölkerung vorausgesetzt werden:

  1. Solidarität – Das Verständnis, das Entscheidungen und Verhalten, die ein einzelner Bürger trifft, diesen über Umwege wieder negativ beeinflussen kann. In den vergangenen Jahren gab es wenig Beispiele, in denen ein Individuum erfahren musste, das wir schlechte Entscheidungen von Einzelnen als Gesellschaft / Solidargemeinschaft teilen.
  2. Abstraktionsvermögen – Die Fähigkeit Sachverhalte und logische Ketten über das eigene Handeln und die nächste folgende Handlung hinaus zu überblicken und ihre Auswirkungen und Folgen auf einer größeren Skala zu verstehen. Ohne herablassend auf Menschen mit weniger Abstraktionsvermögen herabblicken zu wollen, ist die Fähigkeit des abstrakten Denkens kein universell vorhandener Hardskill, da er auch nicht wirklich unterrichtet oder forciert wird.
  3. Medien-Pull-Prinzip – Häufig gehen Politiker noch davon aus, dass nur weil Pressekonferenzen gehalten wurden und auf den öffentlich-rechtlichen Sendern berichtet wurde, dass alle „gehört und verstanden“ haben. Tatsächlich ist die Medien-Kommunikationswelt in Deutschland jedoch so konzipiert, dass es mehr als einfach ist, sich wichtigen und essentiellen Informationen von höchster Stelle zu entziehen. Die Rezeptionspflicht von Kommunikationsangeboten ist für eine Ansprache der Bundeskanzlerin an die Bevölkerung und eine Reality-TV-Show im Free-TV die gleiche – nämlich nicht vorhanden!
  4. Geteilte Wertesysteme – Während die ersten drei Phänomene etwas universeller zu betrachten sind, gibt es auch Fälle, in denen selbst informierte Bürger nicht zu Verhaltensänderungen bewegt werden können. Häufig wird nämlich außer Acht gelassen, dass fast jeder Appell gegen Hamsterkäufe und für Social Distancing auch ein geteiltes Wertesystem zwischen Sender und Empfänger voraussetzt. Wenn auch nicht die Mehrheit betreffend, ist es nicht immer gesagt, dass jeder es schlecht findet, wenn „alte Menschen sterben“, Krankenhaus-Personal bis zur Erschöpfung arbeiten muss oder empfinden, dass „jedes Leben rettenswert“ ist. Unsere Legislative gibt Freiheiten für diese Einstellungen zum Leben.

Sollte demnächst also wieder versucht werden, an die Vernunft der Menschen im Zuge der Corona-Krise zu appellieren, hilft es vielleicht sich daran zu erinnern, dass der Kommunikator den Rezipienten wahrscheinlich nicht gut genug kennt, um ihn als dumm zu bezeichnen. Nichts desto trotz wird es womöglich immer härtere Maßnahmen geben, weil sich der aktuelle Weg der Kommunikation in den Augen der Entscheider abnutzen wird.

Christoph Kleine
Christoph Kleine

... Managing Director bei THE BIG C Agency & Gründer von internetzkidz.de. Neben Online-Marketing beschäftigt er sich mit Usability, Web-Analytics, Marketing-Controlling und Businessplanung. Xing, LinkedIn.

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